Bahn oder Vogel
Wenn man den Worten eines meiner ehemaligen Schulkameraden trauen darf, gibt es zwei Kategorien von Wesensarten, in die sich die Menschheit aufsplitten läßt- entweder man ist eine Eisenbahn oder ein Vogel. Auf das Thema kamen wir, nachdem eingehend unsere bisherige berufliche Karriere erläutert wurde. Irgendwie stellte man fest, daß sich die einstigen Schulmädchen-, bzw. Schuljungenträume stark vom jetzigen realen Stand der Dinge unterschieden. Max, so wollen wir ihn mal an dieser Stelle nennen, ist im Begriff demnächst eine Ausbildung als Diplomkaufmann in einer angesehenen Firma zu beginnen, während ich immer noch vergebens versuche Geld durch kreativen Einsatz zu verdienen.
„Klaudija, du bist wie ein Vogel, der irgendwo über den Wolken fliegt. Aber alles, was hoch fliegt, kann auch tief fallen. Ich bin eher wie ein Zug, der auf festen Schienen nach und nach seine vorgeschriebenen Stationen anfährt. Mal als Regionalbahn, mal als ICE gelange ich dennoch stets ans Ziel.“
Zuerst haben mich seine Worte sehr betrübt, da er meinen Lebensstil als unwirkliche Spielerei abstempelte. Man könnte gar meinen, jeder wisse von vornherein, welche Ziele er hat und wie er diese anzusteuern vermag außer ich- die Vogelfrau. Das wollte und konnte ich nun nicht auf mir sitzen lassen, denn erstens ist das Leben voller Überraschungen und zweitens gibt es genug Persönlichkeiten, die ihr Ding erfolgreich durchgezogen haben. Was gibt ihm also die Permission meine Träume abzuwerten?
„Es mag sein, daß ich ein Vogel bin. Ich schaue von einer anderen Sichtweise auf die Welt und beobachte viele Dinge. Ab und zu falle ich auch hinunter, und verletze mich dabei. Aber, was mich am meisten von der Bahn unterscheidet, ist die angeborene Fähigkeit des Fliegens. Egal, wie oft ich hinfalle, eines Tages werde ich doch wieder hoch hinaus können und nicht mein Leben lang dazu verurteilt sein auf dem Boden zu kriechen.“
Das gab ihm zwar zu denken, doch eigentlich hatte er schon eine eingefahrene Meinung zu diesem Thema entwickelt. Natürlich könne keiner sagen, was besser oder schlechter sei, stimmten wir überein. In Zeiten der überdimensionalen Arbeitslosigkeit ist nichts so sicher, wie der Wandel. Studium, Ausbildung, Praktika, e.t.c. bringen einen erfahrungsgemäß schon weiter, können aber die einstigen Gesellschaftsversprechen der früheren Generationen nicht mehr einhalten. Max und ich sind Anfang zwanzig, wir stehen am Rande eines Abgrundes und müssen erst lernen sicher auf die andere Seite zu gelangen. Vielleicht werden wir dann schon bald erfahren, auf welche Weise man besser ans Ziel seiner beruflichen Träume anlangt. Ob als Eisenbahn oder Vogel, hauptsache, man ist glücklich damit.
24.01.04